Es war einmal eine Handvoll Norweger und eine wunderschöne blonde Dame aus dem selben Land. Sie spielten bebenden Gothic Metal mit moll-lastigen Gitarren, fetten Drums und einem ergreifenden Sangespiel zwischen bösen männlichen Teufelsklängen und weiblichen Engelstimmen...

Das war vor einigen Jahren. Nun begegnet uns die selbe Band in einem ganz neuen Klaggewand, das so manchen alteingesessenen Fan die Flucht ergreifen lässt und dafür aber auch viele neue Verehrer dazugewinnen wird. Theatre of Tragedy sind zurück. Nachdem sie auf ihrem letzten Album "Aégis" schon Andeutungen gemacht haben, dass sie andere musikalische Horizonte erobern möchten, wird dies nun Realität. Das Album beginnt allerdings beinahe in alter Manier. Volle Gitarren, kräftige Drums und jubilierende Chöre eines Mellotrons, dem verstaubten Vorgänger der Synthies und Sampler. Doch dann plötzlich ein Break, elektronische Beats und eine Männerstimme irgendwo "zwischen Johnny Rotten und Keith Flint von Prodigy" (O-Ton der Band, dem ich eigentlich zustimmen kann und selber noch Referenzen an die legendären The Shamen entdecke.). In gekünsteltem angelsächsischem Arbeiterklassen-Jargon wird was von "synthesize", "data", "calculate" und "operate" erzählt. Ziemlich gewöhnungsbedürftig. Erlöst werden wir dann von der bezaubernden Stimme des strohblonden Engels Liv Kristine. "Machine" heisst dieser Song und ist im Chorus extrem eingängig, da recht simpel gestrickt. Weiter gehts mit "City of Light". Wieder Rotten meets Prodigy, unterbrochen vom verzückenden Refrain der Dame. Doch der Sound stimmt. Satte Gitarrenwände und schleppende Drums geben den Ton an. Ich kann nichts dafür, aber ich werde mich vermutlich während der ganzen Scheibe mit Raymonds näselndem Gesang Mühe haben.

Fragment besticht wieder durch einen genialen Refrain und ausgeklügelten Midtempo-Arrangements. Eine Computerstimme zählt auf drei und "Musique" geht los. Theatre of Tragedy veresuchen uns in diesem Stück wahrscheinlich zu erklären, wie sie ihre Songs schreiben. Ray kommt einem hier vor wie ein Musiklehrer, der den Schülern mit seinem gekünstelten Cockney-Slang gehörig auf den Geist geht. Doch das Happy End naht und der Refrain rettet mal wieder alles. Selbst die kraftwerk'sche Elektronik wird wieder von einer schweren Gitarrenbank zugenebelt. Nix neues auch bei "Commute". Musik und Liv gehen runter wie Sonnenblumenöl und noch immer halte ich Krieg mit Rays Stimme – zumal ich weiss, dass er doch so schön tief kann! Nach dem reichlich unspektakulären Radio kommts! Das Überlied! "Image" rattert los wie die Cardigans auf Dope! Uptempo, verstimmte Drums, übersteuerte Gitarren, klirrende Synthies und dann das Wunder schlechthin: Liv Kristine singt alleine! Alleine! Und wie Sie singt - fast so sinnlich und kitschig wie Cardigan-Frontfrau Nina Persson! Man weiss für 3 Minuten nicht, ob man nun lospogen oder einfach still verzückt dasitzen und den Klängen dieses Geniestreichs lauschen soll. Auch "Crash / Concrete" kommt dann besser als erhofft. Rays Stimme ist ja plötzlich so böse und sooo tief!!! Eine Achterbahnfahrt zwischen Rammstein und Ofra Haza, die fesselt und fasziniert. Es geht also doch! Weiter so! Auf "Retrospect" wirds dann langsam und geheimnisvoll. Da störts auch nicht, dass sich der Herr am Mic mal wieder in Sex-Pistols-Sangeskünsten austobt. Das darauf folgende "Reverie" erinnert zeitweise an einen Trip Hop-geschwängerten Epos mit etwas müdem männlichem Sprechgesang und dafür umso aufgeweckteren weiblichen Vocals, die von kreischenden Gitarren und spacigen elektronischen Spielereien untermalt werden.

Seltsames kündigt sich danach an: Ein Lied mit einem schriftlich nicht umsetzbaren russischen Namen verwirrt uns. Ein 100% synthetisches Stück im Stil von Jean-Michel Jarre's Frühwerk Oxygene, gekreuzt mit einem Hauch Kraftwerk und Tangerine Dream. Vocoderstimmen flüstern unverständliche Phrasen. Der ideale Soundtrack für alle Hobby-Astronauten. Nach 20 Sekunden Stille dreht das Tragödientheater nochmals auf und gibt uns eine Vorstellung, wie Punk im 21. Jahrhundert zu klingen hat. Cybersounds meet dreckige Gitarrenriffs und schepperndes Schlagzeug. Fett! Und der Vorhang schliesst sich. Ende der Vorstellung.

Theatre of Tragedy ist mit "Musique" ein verwirrendes, spannendes, verblüffendes aber zeitweilig auch etwas nerviges Werk gelungen, das nur noch wenig mit herkömmlichem Gothic Rock oder mit sonstigem düsteren Gehabe zu tun hat. Es ist einfach eine spezielle Art von Musik - "Musique" halt eben. Krasser kann ein Stilwechsel einer Band kaum ausfallen. Ob's gefällt oder nicht, überlasse ich euch da draussen. Ich werde mir die Scheibe jedenfalls gerne wieder mal anhören, und auch an Rays neue Stimme werde ich mich bis zum nächsten Album sicher gewöhnt haben.

Albuminfo

Punkte

 

0/5

Label

Nuclear Blast

Veröffentlichung

11/2000

Format

CD

Land

Genre

Gothic